„Ich bin am Ende!“ – aktuelle Beiträge zum Thema Burnout

Vollständige körperliche und seelische Erschöpfung, persönliche Entfremdung, dramatischer Verlust an Leistungsfähigkeit – das sind die klassischen Merkmale der Volkskrankheit Burnout. Dabei handelt es sich hier gar nicht um ein klar abgegrenztes diagnostisches Krankheitsbild. Eher ist es wohl ein typisches Zusammentreffen von Symptomen, für die die genauen Ursachen und empirisch validierte Therapien noch im Dunkeln liegen. Doch der Burnout liefert auch ein Schlagwort, unter dem sich diese oft job-bezogenen Probleme ohne Stigma aussprechen lassen. Gleichwie, die Betroffenen brauchen Hilfe. Auf die Frage, wer er sei, antwortet ein Klient von Helen Heinemann unter Tränen: „Ich bin … am Ende!“ Die folgenden zwei Ratgeberbücher können hier durchaus nützlich sein.

Burnout praxisnah

Ferdinand Jaggi, Lehmanns, 2021, 4. Aufl., 124 S.

©Lehmanns, 2021

Ferdinand Jaggi, praktizierender Internist, geht das Problem aus der Sicht des Mediziners an. Für die Diagnose eines Burnouts bietet er in seinem Buch Standardfragebögen samt Auswertungen an, zum Beispiel den weit verbreiteten MBI Test. So kann jeder sein eigenes Burnout Risiko in etwa abschätzen. Für die genaue Einschätzung braucht es dann aber professionelle Hilfe.

Corona-Pandemie und Burnout

Ein großer Teil des Buches widmet sich dem Thema Vorbeugung. Jaggi betont, dass es insbesondere die inneren Einstellungen sind, die uns vor Burnout schützen– unabhängig von der Arbeitsbelastung. Dazu gehört zum Beispiel, das Erkennen eines Sinnes in der eigenen Arbeit, ein grundsätzlicher Optimismus sowie die Pflege von sozialen Beziehungen auch außerhalb der Arbeit. Die letzten beiden Elemente wurden zweifellos durch die Corona-Pandemie besonders betroffen. Quarantäne und Isolation untergraben Optimismus und soziale Kontakte – und damit ist auch das Burnout-Risiko in dieser schwierigen Zeit gestiegen.

Tagebuch der Belastungen

Als konkrete Maßnahme zur Prävention empfiehlt Jaggi insbesondere die geschärfte Wahrnehmung. Ein stetiges ‚Immer Mehr‘ an Aufgaben und Erwartungen kann allmählich und unbemerkt das Burnout-Risiko erhöhen. Es gilt daher, die Warnzeichen zu erkennen. Das sind oft körperliche Symptome, wie Kopfschmerzen, Verspannungen und Magenprobleme. Schlaflosigkeit und beständiges Grübeln über die eigene, scheinbar zunehmend ausweglose Situation verschlimmern alles. Diese Anzeichen gilt es wahrzunehmen und richtig zu deuten, noch bevor es zur Krise kommt. Ein Tagebuch kann helfen. Hier hält man die Belastungssituationen und die damit verbundenen Gefühle fest. Auf diese Weise lassen sich immer wiederkehrende Muster hinter den eigenen Problemen erkennen. Das wäre der erste Schritt, einen möglichen Abwärtstrend früh zu stoppen.

Therapie durch Sinn-Erfahrung

Für die Therapie spielt nach Jaggi die Arbeit an den inneren Einstellungen und Glaubenssätzen eine entscheidende Rolle. Die Betroffenen müssen den Sinn ihrer Existenz wieder neu ergründen und erfahren, denn die Selbst-Definition über immer mehr Leistung führt in den Abgrund. Und Jaggi nimmt Sinn-Erfahrung ganz wörtlich: es geht darum, den Menschen wieder Zugang zu ihrer Selbst-Wahrnehmung durch die Sinne zu verschaffen. Sie müssen sich und ihre Umwelt wieder sehen, hören, riechen, schmecken und – ganz besonders – fühlen. Dann werden sie auch wieder ‚selbst-bewusst‘. Und können aufhören, nur für ihre Arbeit oder für andere zu funktionieren.

 

Warum Burnout nicht vom Job kommt – die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1

Helen Heinemann, HarperCollins, 2019, 2. Aufl., 224 S.

Helen Heinemann erläutert ihre Empfehlungen anhand einer Vielzahl von Fallstudien aus ihrer praktischen Erfahrung als Psychotherapeutin mit Spezialisierung auf Burnout. Wie im Buchtitel angedeutet sieht sie gar nicht eine überhohe Arbeitsbelastung als Ursache für einen Burnout. Statt dessen liegt in ihrer Sicht, ähnlich wie bei Jaggi, die Ursache vielmehr in den verinnerlichten Glaubenssätzen der Betroffenen.

Burnout-Risiko: Stets alle Erwartungen erfüllen

Nach Heinemann entsteht ein Burnout-Risiko immer dann, wenn Menschen nicht angemessen Nein sagen können. Mit anderen Worten, Mann oder Frau geben alles, um von außen herangetragene Erwartungen zu erfüllen. Das kann bei der Arbeit sein, wo ein fordernder Chef immer neue Aufgaben zuteilt. Das kann aber ebenso in der Familie passieren, wo Ansprüche der Partner und der Kinder immer weiter wachsen. Oft kommt beides zusammen, und die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit sind schnell erreicht.

Das Nein als Stufe der Persönlichkeitsentwicklung

Die Unfähigkeit, Nein zu sagen, ist nach Heinemann oft Folge eines geschwächten Selbstwertgefühls. Sie gibt das Beispiel von Kindern und Jugendlichen. Zweijährige Kinder und 15-jährige Jugendliche haben in aller Regel keinerlei Probleme, ihren Eltern und Bezugspersonen ein klares Nein entgegenzuschleudern. Gern auch, wenn die Anfrage sachlich begründet ist und durchaus höflich vorgetragen wird. In beiden Fällen ist das Nein ein wichtiger Entwicklungsschritt – ein erster Schritt der Lösung des Kindes aus der elterlichen Abhängigkeit oder ein letzter Schritt der Abgrenzung des Jugendlichen auf dem Weg zum selbständigen Erwachsenen. Und in beiden Fällen erfolgt das Nein auf der Sachebene ohne die Befürchtung, dafür gleich komplett aus der Familie ausgeschlossen zu werden. Voraussetzung für ein gesundes Nein auf der Sachebene ist eine stabile und belastbare Beziehung auf der persönlichen Ebene.

Nein sagen kann man lernen

Wo dieses Vertrauen schwach ist oder fehlt, führt das Nein auf der Sachebene automatisch zu der Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit zur Familie, zum Arbeitsumfeld oder zum sozialen Umfeld. Deshalb findet Heinemann auch ein erhöhtes Burnout-Risiko bei Menschen, die sich weit von ihrem ursprünglichen Familienumfeld entfernt haben, etwa durch Wahl eines komplett neuen Berufsfeldes oder auch durch räumliche Trennung. Die steigende Angst, in einem fremden Umfeld nicht angenommen zu werden, alarmiert den Selbsterhaltungstrieb. In dieser Situation steigt das Risiko, jeden weiteren Arbeitsauftrag vom Chef anzunehmen. Und jede weitere Erwartung aus Familie und sozialem Umfeld zu erfüllen. Und so weiter. Bis es nicht mehr geht.

Daher müssen Burnout-Vorbeugung und -Therapie bei den persönlichen Glaubenssätzen beginnen. Wer seinen Lebenssinn erkannt hat und sich seiner selbst bewußt ist, kann auch lernen, nein zu sagen.

 

Der Kern des Problems

Heinemann und Jaggi gehen das Burnout-Thema aus unterschiedlichen Richtungen an. Hier die erfahrungsbasierte Psychologin, dort der praktische Arzt mit dem medizinischen Dreiklang aus Diagnose, Prävention und Therapie. Trotzdem sind sie sich bei der Bedeutung der Sinn-Frage und des Selbst-Bewußtseins für das Burnout-Risiko sehr einig – Burnout entsteht im Inneren. Die äußeren Arbeitsbedingungen können lediglich als Auslöser dienen. Und da die beiden Bücher mittlerweile in der zweiten (Heineman) bzw. vierten Auflage (Jaggi) erschienen sind, spricht einiges dafür, dass hier tatsächlich der Kern des Problems liegt.

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