Erfülltes Leben
Friedemann Schulz von Thun, Carl Hanser Verlag, 2021, 213 S.
© 2021, Carl Hanser Verlag
Friedemann Schulz von Thun ist einer der bekanntesten deutschen Psychologen. Seine Modelle zur Kommunikation (Vier-Ohren Modell) sowie zur Persönlichkeit (Inneres Team) zählen zum Standard-Repertoire in Coaching und Psychotherapie.
Mit ‚Erfülltes Leben‘ legt Schulz von Thun nun seine persönliche Sicht zur Frage der richtigen Lebensgestaltung vor. Er beruft sich dabei auf seine eigene Lebenserfahrung, seine wissenschaftlichen Einsichten sowie auf große Künstler und Denker. Goethe, Hermann Hesse, Johann Sebastian Bach und andere Geistesgrößen sind stets präsent.
Humanismus als Basis
Über allem steht ein zutiefst humanistisches Bild des Menschen, dessen Selbstwerdung das Maß eines erfüllten Lebens ist. „Unsere Individualität zu leben ist eine Herausforderung, die uns ein Leben lang auf Trab hält“, zitiert der Autor den kürzlich verstorbenen Schweizer Experten für persönliche Entwicklung Remo Largo.
Vier Pfeiler und eine Klammer
Was sind nun die Grundlagen für ein erfülltes Leben? Schulz von Thun liebt Vier-Felder Diagramme (z. B. die vier Ohren) und findet auch für das erfüllte Leben vier Pfeiler: i) die Erfüllung eigener Wünsche, ii) den sinnstiftenden Beitrag zu größeren Aufgaben, iii) die gelingende Erzählung der Hochs und Tiefs im eigenen Leben sowie iv) die eigene Wahrnehmung als Teil des Kosmos. Diese vier Pfeiler werden zusammengehalten von der übergeordneten Selbsterfüllung: erfülltes Leben gelingt, wenn alle Aspekte des Lebens als stimmig mit dem eigenen Selbst erlebt werden.
Das klingt einfach – doch der Teufel steckt im Detail. So erklärt der Autor, dass die wirklichen Wünsche nicht unbedingt immer die naheliegendsten sein müssen. Manchen ‚Herzenswunsch‘ lässt man sich auch von Mitmenschen einreden. Schulz von Thun berichtet eher kleinlaut von einem Steuersparmodell, bei dem er glaubte mitmachen zu müssen und das dann gründlich schief ging. Die Rolle als Steuerfuchs ist nicht wirklich die seine.
Wir spielen verschiedene Rollen
Auch Stimmigkeit in der Selbsterfüllung kommt nicht von allein. Welches Verhalten ist stimmig und meinem Wesen gerecht? Menschliches Verhalten gründet auf einer Kombination aus äußeren Erwartungen an einer bestimmte Rolle (z. B. als Vater, Freundin, Kollege) und dem persönlichen Selbstverständnis. Beide stehen in einem dynamischen Prozess: „Du macht Deine Geschichte und Deine Geschichte macht etwas mit Dir“, sagt der Autor.
Das innere Team
Mit Hilfe des Konzepts des „inneren Teams“ lässt sich dieser Prozess besser verstehen. Unsere Persönlichkeit besteht nicht aus einem Block. In uns sind viele Persönlichkeiten angelegt, und sie kommen in verschiedenen Situationen unterschiedlich zum Tragen. Zum Beispiel kann derselbe Mensch als penibler Zahlentyp im Job als Buchhalter auftreten und abends unter Freunden als großzügiger Gastgeber, der über Kleinigkeiten hinwegsieht. Stimmig ist das Leben, wenn die Persönlichkeitsanteile im Gleichgewicht sind und keiner die anderen unangemessen dominiert.
Risiko Narzissmus
Umgekehrt tut extreme Selbsterfüllung, wenn narzisstische Persönlichkeitsanteile überhand nehmen, nicht gut. Dann geht es nur noch um die Bestätigung des eigenen Selbstwertes auf Kosten anderer – oft aus einem verletzten ursprünglichen Selbstvertrauen heraus. Stimmig wird die Persönlichkeit, wenn dieses mangelnde ursprüngliche Selbstvertrauen erkannt und gestärkt wird und keine künstliche Selbsterhöhung auf Kosten anderer mehr nötig ist.
Was sagen andere Autoren?
‚Erfülltes Leben‘ ist ein sehr persönliches Buch, voll mit Beobachtungen aus Forschung und Wissenschaft, die er Zeit seines Lebens mitverfolgt und vorangetrieben hat. Dabei präsentiert der Autor hier nicht unbedingt ein einheitliches und allgemein gültiges, empirisch belegtes Schema sondern eher eine Mischung aus verschiedenen Aspekten, denen er Bedeutung zumisst, angereichert um Episoden aus dem eigenen Leben.
Vier oder fünf Glücksfaktoren?
Einige der hier genannten Aspekte ähneln denen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Gebiet der empirischen Glücksforschung erkannt wurden. So identifiziert etwa auch Emily E. Smith (‚Die vier Säulen eines erfüllten Lebens‘) vier Säulen als entscheidend für ein erfülltes Leben, nämlich: gelingende Beziehungen, eine eigene Bestimmung, die Formulierung einer eigenen Geschichte sowie die Selbstwahrnehmung als Teil des Ganzen. Wie man sieht, sind drei der vier Elemente bei beiden Autoren gleich und Schulz von Thun ersetzt nur die Rolle der Beziehungen durch Erfüllung eigener Wünsche.
Dagegen deutet die Positive Psychologie auf fünf Faktoren des Glücks hin: Positive Erfahrungen, Engagement für sinnvolle Aktivitäten, gesunde menschliche Beziehungen, ein Gefühl der Sinnhaftigkeit des Lebens sowie Erfolge und Leistungen, auf die man zurückblicken kann. Die ersten beiden Elemente (positive Erfahrungen, sinnvolles Engagement) sowie die Erfahrung der Sinnhaftigkeit liegen nah bei den Elementen, die auch Schulz von Thun betont. Dagegen ist der Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehungen bei Schulz von Thun nicht direkt zu finden, während umgekehrt die Erfahrung der Transzendenz nicht unbedingt zu den fünf empirisch belegten Glückselementen zählt.
Aber auch bei der Gewichtung der einzelnen Faktoren gibt es Unterschiede. So stellt in der sogenannten narrativen Psychologie die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte das zentrale Element der Persönlichkeitsentwicklung dar und ist nicht nur ein Element unter mehreren.
Insgesamt muss wohl jeder seine eigenen Glücksfaktoren finden. Die Beobachtungen von Schulz von Thun und der übrigen Forschung können helfen, mögliche Defizite zu erkennen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Schulz von Thuns Buch hilft hier besonders beim Verstehen der unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile im inneren Team. Am Ende sollen ja alle Mitglieder des Teams glücklich werden.